Brasília – Sozialistische Träume in Beton gegossen

Manch einer mag denken, dass Rio de Janeiro die Hauptstadt Brasiliens wäre, tatsächlich ist die Hauptstadt aber Brasília, eine Ende der 50er Jahre geborene Retortenstadt (bis dahin war es aber tatsächlich Rio ;-)). Schon bei der Schaffung der Verfassung 1891 wurde der Plan gefasst eine neutrale Hauptstadt im Binnenland Brasiliens zu schaffen. 1922 wurde der Grundstein gelegt, aber erst in den 50er Jahren wurde der Bau von Präsident Getúlio Vargas vorangetrieben. Es wurde eine Ausschreibung für den Entwurf der Stadt gemacht, die Lucio Costa und Ocar Niemeyer gewannen. Costas Projekt sah eine Stadt in der Form eines Vogels oder Flugzeug vor. Daher gibt es jetzt drei Teile der Stadt: Einmal den „Rumpf“, auf dem die ganzen Regierungs- und Prachtbauten sind. Dort findet man entlang einer riesigen Avenida Halbkugeln, gigantische Müslischüsseln, umgedrehte Müslischüsseln, Pyramiden usw…das sind die bekannten Niemeyer Bauten, ein paar Bilder von unserem Besuch gibts weiter unten.

Zu erkennen ist der Grundriss Brasilias in Form eines Flugzeugs/Vogels

Wer erkennt das Flugzeug?

Abseits davon finden sich neben zahlreichen Betonklötzen im Charme der 60er Jahre Zweckbau-Architektur auch moderne Glasbauten. Im Cockpit des Flugzeuges befindet sich das Zentrum der brasilianischen Macht: der Platz der drei Gewalten – Nationalkongress, Regierungspalast und Justizpalast. Daran schließen sich die Ministerien an; mehrere scheibchenartige gleiche Gebäude in einer Reihe. Schräg gegenüber vom Kongress befindet sich das Itamarty – das Außenministerium. Eigentlich hatten wir geplant am Samstag das Itamaraty zu besuchen, aber zufällig war Joe Biden, der amerikanische Vize-Präsident zu Besuch, sodass wir das Gebäude und zahlreiche Polizisten nur von außen bewundern konnten (inklusive Scouts auf dem Dach).

Ein Hightlight in dem Zusammenahang war die Motoradeskorte von Militärpolizisten, die hinter dem Itamaraty geparkt war. Ich wollte ein Foto von den dicken Harleys mit Brasilien- und USA Wimpelchen machen. Als ich einen der Polizisten fragte, ob ich ein Foto machen dürfte lautete die Antwort einfach: „Ja klar, kannst dich auch drauf setzen“ 😀 Ich glaube das ist ein gutes Beispiel für die brasilianische Lockerheit. Ich kann mir nur schwer vorstellen, dass die Antwort ähnlich ausfallen würde wenn man bei der Bundeswehr oder Bundespolizei während eines Staatsbesuches dieselbe Frage stellt.

yeeaayyy :D

yeeaayyy 😀

Zurück zum Flugzeug: Wer fliegen will braucht Flügel. Die Tragflächen bildet in diesem Fall das Volk. In den Nord- und Südflügeln, die symmetrisch angelegt sind, befinden sich die Wohngebiete. Unser Couchsurfing Host wohnte im Nordflügel. Die ganze Stadt ist durch ein Koordinatensystem aufgeteilt. Eine typische Adresse wäre scrn 706. Häääää???? Lasst mich kurz erklären was das bedeutet. Das System ist nicht intuitiv, aber hat man es einmal verstanden, ist es simpel: Wichtig um die Adresse zu finden ist erstmal der letzte Buchstabe in der Abkürzung, in diesem Fall ein N. Dadurch wissen wir, dass die Adresse im Nordflügel liegt (sehr wichtig, denn man könnte sonst in die umgekehrte Richtung fahren und die gleiche Adresse, aber nicht den gesuchten Freund finden 😉 Jetzt zur Zahl: Neben dem Cockpit als Nord-Süd-Achse, gibt es eine entlang der Flügel gekrümmte West-Ost-Achse. Oberhalb dieser Achse befinden sich die ungraden Hunderter: 100, 300, 500, 700, 900, die jeweils durch eine Hauptstraße, die parallel zur Hauptachse verläuft, getrennt sind. Unterhalb liegen entsprechend die graden Hunderter. Jetzt fehlt noch die Angabe, wie weit von der Nord-Süd-Achse unsere Adresse liegt. Das wird durch die letzten beiden Ziffern, die von 01 bis 16 reichen ausgedrückt. Die Blöcke entlang der West-Ost-Achse sind dementsprechend durchnummeriert, d.h. je höher die Nummer, desto weiter weg vom Rumpf des Flugzeugs (Nord-Süd-Achse). Jetzt fragt sich noch was die ersten 3 Buchstaben scr bedeuten: Setor Comercial Residencial (Geschäfts- und Wohngebiet). In Brasilia ist alles sektorisiert. So ist einem Block entsprechend der Abkürzung eine Funktion zugewiesen. Es gibt Sektoren, wo sich nur Hotels befinden (neben der Prachtstraße), andere wo sich nur Krankenhäuser befinden etc. Die meisten Blöcke sind aber so genannte Super Quadras (Super Blöcke), die alle GLEICH sind. Hier zeigen sich die sozialistisch geprägten Ideen der Planer, die Gleichheit mit modernen stadtplanerischen Konzepten der Zeit verbinden wollten. Die Idee ist, dass man in jedem Wohnblock auch Einrichtungen für die „Grundversorgung“ findet: einen Supermarkt, eine Apotheke, Friseur, Bäckerei, Kneipe, Restaurant etc. Eigentlich eine ganz gute Idee, damit man alles nah bei der Wohnung hat. Leider resultiert das darin, dass alle Blöcke gleich aussehen. Einmal sind wir mit dem Taxi nach hause gefahren und im falschen Block ausgestiegen, weil ich felsenfest davon überzeugt war, dass wir an der gleichen Ecke bereits an den vorherigen Tagen vorbeigefahren waren…Zum Konzept der Gleichheit zählt, dass nichtbebaute Flächen öffentlicher Bereich sind, der frei zugänglich bleiben muss. Daher sind Wohngebäude anders als in vielen anderen brasilianischen Städten nicht eingezäunt. Auch der Stadtpark (der größte urbane Park der Welt) ist tags und nachts zugänglich. Den sollte man nachts trotzdem meiden, da es dort wohl schon häufiger zu Morden und Vergewaltigungen kam. Dementsprechend hatten die Organisatoren unserer Festa Junina (s.u.) im Stadtpark auch 5 Security Leute bestellt…

Ein anderes Problem sind die Distanzen. Lucio Costa konnte sich keine Zukunft ohne Autos vorstellen und wollte eine Stadt der Zukunft schaffen. Deswegen wurde das Auto in der Hierarchie der Transportmittel an oberste Stelle gesetzt. Fußgänger landeten ganz unten. In den heutigen Zeiten, geprägt von Klimawandel und dem Trend zur Verbannung von Autos aus vielen Innenstädten, wirkt das ziemlich aus der Zeit gefallen. Weder wir noch unser Gastgeber besitzen ein Auto, sodass wir einen erstklassigen Eindruck davon bekamen, was das bedeutet. Man läuft und läuft und läuft. Tagsüber fahren sogar noch viele Busse, nachts ist aber Sense, also Taxi-Zeit. Wenn man zu Fuß unterwegs ist bekommt man einen gratis Abenteuerurlaub: Wer wollte nicht schon immer mal über sechsspurige Avenidas ohne Ampeln (bzw. mit der nächsten Ampel in 1-2 Kilometern Entfernung) sprinten? 😉 Oft gibts auch garkeinen Bürgersteig, sodass man über Gras und durchs Gebüsch laufen darf. Unser Gastgeber nennt Brasilia daher auch den größten urbanen Acker der Welt.

Die Distanzen sind einfach gewaltig. Von einem Monument zum nächsten auf der Prachtstraße läuft man mindestens 5 Minuten (klingt nicht viel, summiert sich aber schnell), obwohl es angesichts des Maßstabes der ganzen Stadt so aussieht, als lägen die beiden Gebäude direkt nebeneinander. Mich hat Brasília auf Grund der Größe und der Freiflächen auch an Peking erinnert – ein grünes Peking. Ein anderer Nebeneffekt ist, dass die Stadt wie eine leblose Geisterstadt wirkt. Das mag teilweise auch daran liegen, dass wir am Feiertag da waren, aber großteils ist das dem Fakt geschuldet, dass alle in ihren Autos sitzen. Auf mich wirkte die Stadt daher auch gefährlicher als São Paulo. In São Paulo sind viele Gegenden meistens gut bevölkert, in Brasilia ist man fast immer allein auf weiter Flur. Am ersten Tag wurde auch direkt jemand neben uns an der Bushaltestelle überfallen. Ironischerweise wurde ein Dieb ausgeraubt. Ein junger, offensichtlich armer Mann schlurfte von der anderen Straßenseite auf unsere Bushaltestelle zu. Plötzlich kamen zwei Männer von hinten angestürmt, hielten ihn fest und schlugen mit einem Brett auf ihn ein, bis plötzlich ein Laptop unter seinem Pullover runterfiel. Den schnappten sie sich, schimpften weiter auf ihn ein und verschwanden. Man könnten nun meinen, dass der arme Mann zu Unrecht überfallen wurde, aber es wirkte schon so, als ob er den Laptop geklaut hatte und sein Besitzer ihn sich wiedergeholt hat (zumindest schrien sie auf ihn ein, er solle den Laptop zurück geben). Wäre das Gegenteil der Fall gewesen, wäre es ziemlich unwahrscheinlich, dass zwei Männer so zielgerichtet auf ihn zugerannt kamen, man konnte vorher auch nicht erkennen, dass er einen Laptop bei sich hatte.

Passend zum Konzept gibt es auch nur eine U-Bahn Linie im Südflügel, im Nordflügel gibt es keine. Die U-Bahn im Südflügel dient hauptsächlich zum Herankarren billiger Arbeitskräfte aus den Satellitenstädten. Ein interessantes Detail ist, dass viele Ubahn Stationen gebaut wurden, aber nur wenige geöffnet sind. Man dachte sich später dass es sich nicht lohnt die anderen Stationen zu eroeffnen (laufende Kosten für das Personal, Beleuchtung etc.). Daher fährt man durch einige Geisterstationen, wo nur der Innenausbau fehlt (d.h. Bodenbeläge, Beleuchtung etc.).

Was war sonst noch in Brasilia? Wir waren zur Couchsurfing Invasion da, d.h. Couchsurfer aus allen Ecken Brasiliens kamen am gleichen langen Wochenende nach Brasilien und wurden von den Brasiliensen (Bewohner von Brasilia) empfangen. Neben den Stadtbesichtigungen wurde auch einiges an Abendprogramm – diverse Parties und eine Festa Junina, ein typisches brasilianisches Fest im Juni – geplant. Eine klasse Veranstaltung 🙂

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08. Juni 2013 von Chris
Kategorien: Brasilianische Städte, Couchsurfing, Persönliche Erfahrungen, Urlaub | Schlagwörter: , , , , , | Schreibe einen Kommentar